Satz: Metrische Taktordnung der musikalischen Komposition

Satz: Metrische Taktordnung der musikalischen Komposition
Satz: Metrische Taktordnung der musikalischen Komposition
 
Die Grundlagen der klassischen Satzprinzipien stammen aus einer Zeit, für die die Nachwelt bezeichnenderweise den hilflosen Ausdruck »Vorklassik« erfunden hat. Charles Burney, einer der ersten und bedeutendsten Musikhistoriographen des 18. Jahrhunderts, hatte in seiner »General history of music« 1789 von der »revolution in music of Germany« gesprochen, die er in der Zeit um 1740 glaubte erkannt zu haben. Eine Revolution war es nicht im Sinne eines plötzlich ausbrechenden Ereignisses, wohl aber hinsichtlich der Radikalität, in der sich die Satzprinzipien - in relativ kurzer Zeit - gewissermaßen ins Gegenteil gewandelt hatten. Dazu gehört die Abkehr von den beiden barocken Satzgrundlagen, dem Generalbass, wie er etwa in Johann Sebastian Bachs Konzerten vorliegt, sowie der kontrapunktischen Gleichwertigkeit der Stimmführung, wie sie exemplarisch in seinen Fugen zu erkennen ist. Gleichzeitig beginnt die Hinwendung zu einem Oberstimmensatz mit einer als »natürlich« und »einfach« empfundenen liedhaften Sanglichkeit sowie dem Vorrang der Melodie vor den (primär) begleitenden Unterstimmen. Damit zusammen hängt das neue Vertikalitätsdenken in der Harmonik, das den vom Generalbass bestimmten Reichtum akkordischer Stufen durch eine ebenfalls »natürliche« und »einfache« Kadenzharmonik ablöst. Ferner gehört dazu die Ablösung des Prinzips der durchgängigen rhythmischen Einheitlichkeit eines Werkes durch ein Diskontinuitätsprinzip, das auf kleinstem Raum rasche Wechsel der Mittel und Affekte möglich machte. Verbunden ist damit wiederum der Wechsel von einer blockhaften, großräumigen und gleichförmigen Abschnittbildung hin zu einer individuellen, spontan erscheinenden Kleingliedrigkeit. Mit diesen »revolutionären« Neuerungen wurde in der Tat, lange bevor in Paris die Barrikaden brannten, ein wesentliches Stück der alten Welt, zumindest im Bereich der Kunst, eingerissen.
 
Die Jahre von 1760 bis 1780 gelten als eine Zeit des Experimentierens und der expressiven Versuche, der Vielfalt der Formen und des Nebeneinander von Alt und Neu. Mit der Wiener Klassik ist dieser komplexe Prozess freilich noch nicht abgeschlossen, sondern vielmehr auf einen Höhepunkt gebracht, der nun als mustergültige Vereinigung und Verschmelzung aller bis dahin erprobten Mittel und Formen rezipiert wurde. Das heißt aber nicht, dass neben der Wiener Klassik nicht auch andere Stränge dieses Veränderungsprozesses zu beobachten sind, vor allem in Italien und Frankreich, aber auch in Deutschland, zum Beispiel von anderen musikalischen Zentren wie Mannheim oder Berlin aus.
 
Zur Bestimmung des speziell »Wiener« Klassischen in den Werken seit den 1780er-Jahren gehört das besondere Maß der Integration oder der »Aufhebung« (der Auflösung, Bewahrung und Erneuerung) heterogener Mittel hin zu einer besonderen, eben als »klassisch« empfundenen Einheit. Die zentrale ästhetische Maxime hierfür geht zwar ebenfalls auf die Vorklassik zurück, wird aber erst in der Wiener Klassik »vollkommen« verwirklicht: die Forderung nach »Mannigfaltigkeit in der Einheit« und »Einheit in der Mannigfaltigkeit«. Das betrifft im Grunde alle kompositorischen Ebenen.
 
Grundlegend für den musikalischen Satz wird das Prinzip der in (gleich langen) Paaren gegliederten metrischen Taktordnung und des darauf gründenden Periodenbaus, wie er bereits im Tanz und im (deutschen und italienischen) Volkslied seine als »natürlich« empfundene Heimat hatte. Die musikalische »Periode«, ein Begriff, der ursprünglich aus der Rhetorik stammt und einen syntaktisch vollkommenen Satz meint, entspricht durch ihre besondere (paarige) Metrik einer Lied-Strophe aus zwei oder vier Versen. An Mozarts Lied »Komm, lieber Mai, und mache« lässt sich das Prinzip verdeutlichen. Der erste Vers umfasst den »Vordersatz«, auf den sich der zweite, der »Nachsatz«, durch melodisch-rhythmische Entsprechungen musikalisch »reimt«: »...Bäume wie-der grün« und »...kleinen Veil-chen blühn« haben die gleiche, aber um den Tonschritt einer Terz versetzte Melodik, bei der die erste auf der Terz, die zweite auf dem Grundton und damit stärker als die erste schließt, die demgegenüber »offen« endet, weil sie einer Fortsetzung bedarf. Dem paarigen Verhältnis von offenem, gleichsam fragendem oder »aufstellendem« Vordersatz und schließendem oder antwortendem Nachsatz entsprechen genau die jeweils paarigen Binnenglieder. Der aufstellenden melodischen Bewegung von »Komm, lieber Mai, und mache« antwortet die schließende Bewegung mit »die Bäume wieder grün«, während melodisch-metrisch »und mache« selbst schon Antwort auf »Komm, lieber Mai« ist. Entsprechendes gilt vom Nachsatz, der dem Schlussakzent nur ein entsprechend größeres Gewicht verleiht. Dieser Aufbau entfaltet also eine hierarchische und zugleich »symmetrische« Struktur, die auf der Potenzierung zweizahliger (binärer) Einheiten beruht: etwa 1+1, 2+2, 4+4, 8+8. Auch Beethovens wohl bekannter Hymnus »An die Freude« aus dem Schlusssatz seiner neunten Sinfonie kann hier ebenfalls als klassisches (und übrigens »klassisch« gemeintes) Beispiel dienen. Zugleich aber wird im Zuge des Auskomponierens genau dieses »natürliche«, weil im Volkslied beheimatete Bauprinzip zum Gegenstand artifiziellen Spiels, das seine grundsätzliche Gültigkeit zwar nicht antastet, wohl aber in vielfältiger Form erweitert und in feinen Varianten verändert.
 
Die Floskelhaftigkeit der Melodiebildung, wie sie vielfach zum Beispiel noch zur Zeit des galanten Stils anzutreffen war, weicht ferner einem individuellen, zunehmend subjektiven Ton, der die zu Grunde liegenden einfachen Elemente von Diatonik und Dreiklangsmelodik durch unerwartete, spontan erscheinende Wendungen bereichert. Vor allem bei Mozart dringt oftmals eine frappierende, aber fein dosierte Chromatik als austariertes Gegengewicht zu Diatonik und einfacher Kadenzharmonik ein. Zugleich aber bleibt im Individuellen das Moment der Allgemeinverbindlichkeit, gewissermaßen die Sprache Jedermanns, erhalten. In den Lied- oder Oberstimmensatz mischten schon die Vorklassiker verpönte, weil als »unnatürlich« empfundene Elemente kontrapunktischer Stimmbehandlung. Selbst Fugen werden nun wieder möglich, bleiben jedoch in ihrer Bindung an die klassische Melodik und einfache Kadenzharmonik dem neuen Satz verpflichtet. Ebenso werden die Unter- und Nebenstimmen zunehmend aus ihrer begleitenden in eine primär mitgestaltende Rolle geführt, und auch das hierarchische Verhältnis des Stimmverbandes unterliegt jetzt dem artifiziellen Spiel. Damit verbunden ist ein neues Verfahren, das Haydn und Mozart entwickelten und das Beethoven dann zum Prinzip erhob, die »durchbrochene Arbeit«. Damit ist die aufeinander folgende Verteilung thematischer Einheiten auf mehrere Instrumente gemeint, die die Integration der Stimmen ebenso fördert wie die Farbigkeit des Satzes. Ein besonders wichtiges Merkmal des (Wiener) klassischen Satzes ist schließlich die Verschmelzung der vokalen und instrumentalen Musiksprache. Übertragen gesprochen: Die Instrumente haben das Singen und die Vokalstimmen das Spielen gelernt. Man vergleiche nur den Anfang der Arie des Cherubino »Non so più cosa son, cosa faccio« aus Mozarts Oper »Figaro« mit dem Beginn seiner berühmten g-Moll-Sinfonie (KV 550), um zu erkennen, wie verwandt die Idiome geworden sind. Von zentraler Bedeutung ist dabei freilich, dass die Musiksprache insgesamt jenen Tonfall des Singens angenommen hat, dessen (kompositionstechnische) Grundprinzipien im einfachen Gesang des Menschen wurzeln, deren volkstümliche Schlichtheit jedoch in höchstem Maße verfeinert und in artifiziellem »Spiel« neu gestaltet wird, einem musikalischen und szenischen Vor-Spiel wie auch im Sinne kompositorischer Auseinandersetzung mit eben diesen Grundprinzipien. In dieser kunstvollen Einfachheit, die selbst ein Moment jener klassischen (dialektischen) »Aufhebung« ist, wurde die Musik der Wiener Klassiker zur Musiksprache schlechthin, zur Musik, die jedermann »versteht«. Das allein erweist sich bereits an den Stücken, die schon zu ihrer Zeit »Welterfolge« waren, etwa den Sinfonien Haydns, oder der kurz nach 1800 einsetzenden »internationalen« Mozart-Verehrung.
 
Prof. Dr. Wolfram Steinbeck
 
 
Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.

Universal-Lexikon. 2012.

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